Kennst du diesen Moment, wenn jemand etwas sagt oder tut – und noch bevor du darüber nachdenkst, hast du innerlich schon ein Urteil gefällt?
„Das geht gar nicht.“
„Wie kann man nur?“
„Ich würde das nie tun.“
Diese inneren Kommentare sind menschlich.
Wir alle tun es.
Doch sie sind oft wie unsichtbare Mauern, die uns von anderen – und auch von uns selbst – trennen.
Die Praxis der radikalen Nicht-Verurteilung ist wie ein Schlüssel, der diese Mauern aufschließt.
Sie lädt uns ein, Situationen, Menschen und sogar uns selbst so zu sehen, wie sie sind – ohne sie sofort in „gut“ oder „schlecht“ einzuteilen.
Was bedeutet „radikal“?
„Radikal“ bedeutet hier nicht „extrem“ im negativen Sinn, sondern „bis zur Wurzel gehend“.
Nicht nur in den leichten Momenten nicht zu urteilen, sondern immer – auch dann, wenn unser Ego am lautesten schreit.
Es ist leicht, nicht zu verurteilen, wenn wir etwas Schönes sehen.
Die wahre Übung beginnt, wenn uns etwas irritiert, verletzt oder schockiert.
Genau dort liegt die radikale Tiefe dieser Haltung.
Drei Kernprinzipien der radikalen Nicht-Verurteilung
Wahrnehmung ohne Etikett Statt sofort „Das ist falsch“ zu denken, üben wir, einfach zu beobachten: „Er hat laut gesprochen.“ – ohne sofort „Er ist unhöflich“ hinterherzuschicken.
Trennung von Fakt und Interpretation Fakt: „Es regnet.“ Interpretation: „Der Tag ist ruiniert.“ Die Interpretation ist unsere Wertung – und die können wir loslassen.
Selbstmitgefühl Radikale Nicht-Verurteilung beginnt bei uns selbst.
Wie oft beschimpfen wir uns innerlich, weil wir einen Fehler gemacht haben? Wenn wir lernen, uns selbst mit derselben Milde zu begegnen, die wir anderen schenken wollen, verändert sich alles.
Was Nicht-Verurteilung nicht ist
Manchmal glauben Menschen, Nicht-Verurteilung hieße, alles gutzuheißen.
Das stimmt nicht.
Du darfst klare Grenzen setzen, Verantwortung einfordern oder „Nein“ sagen – ohne eine Person innerlich zu beschämen oder abzuwerten.
Beispiel:
„Ich möchte nicht, dass du so mit mir sprichst.“
Das ist eine Grenze – aber ohne das Urteil: „Du bist ein schlechter Mensch.“
Wenn der andere trotzdem ein Urteil hineinliest
In manchen Situationen kann es passieren, dass wir eine Grenze klar und wertungsfrei formulieren – doch der Empfänger interpretiert trotzdem ein Urteil hinein.
Vielleicht hört er in unserer Aussage: „Du bist falsch“ oder „Du bist nicht genug“ – auch wenn wir das nie gesagt oder gemeint haben.
Das ist oft kein böser Wille, sondern das Ergebnis seiner eigenen Erfahrungen, Verletzungen oder Glaubenssätze.
Das Problem: Plötzlich dreht sich das Gespräch nur noch darum, ob wir ihn verurteilen – und die eigentliche Botschaft, die Grenze, gerät aus dem Fokus.
Wie du damit umgehen kannst:
Ruhe bewahren – nicht ins Verteidigen rutschen, sonst verfestigt sich der Eindruck.
Gefühl anerkennen, Kernbotschaft wiederholen „Ich höre, dass du das so empfindest, als würde ich dich bewerten.
Das ist nicht meine Absicht.
Mir geht es darum, dass…“ Innere Klarheit halten – ihre Reaktion sagt mehr über ihre Landkarte aus als über deine Absicht.
Nicht missionieren – du musst nicht beweisen, dass du urteilsfrei bist. Bleibe liebevoll standhaft bei deiner Grenze.
Radikale Nicht-Verurteilung schließt auch ein, nicht zu verurteilen, dass der andere dich missversteht.
Manchmal ist der sanfteste Weg, einfach anzuerkennen:
„Er hört es gerade durch diesen Filter – und das ist in Ordnung. Meine Klarheit bleibt.“
Warum es so kraftvoll ist
Es bringt inneren Frieden, weil wir nicht ständig im Kampfmodus sind.
Es öffnet Raum für echtes Verständnis und Verbindung.
Es hilft, das Leben aus einer Perspektive von Liebe statt Angst zu betrachten.
Drei einfache Übungen für den Alltag
Achtsamkeits-Minipause Bevor du auf etwas reagierst, atme einmal tief ein und aus. Frage dich: „Was sind die Fakten – und was ist meine Interpretation?“ Urteils-Tagebuch Notiere dir abends eine Situation, in der du ein Urteil bewusst losgelassen hast.
Beobachte, wie sich das anfühlt.
Spiegelübung Sieh dir selbst in die Augen und formuliere drei nicht wertende Beobachtungen über dich. („Ich sehe müde aus“ statt „Ich sehe furchtbar aus“.)
Mein persönlicher Weg
Ich habe die radikale Nicht-Verurteilung nicht aus einem Buch gelernt, sondern aus Situationen, in denen ich selbst hart geurteilt habe – über andere und über mich.
Es war schmerzhaft zu sehen, wie sehr diese Haltung trennte.
Mit der Zeit habe ich bemerkt: Je weniger ich urteile, desto leichter kann ich im Herzen bleiben – auch wenn ich Grenzen setze.
💖 Fazit
Radikale Nicht-Verurteilung ist keine Technik, die man „perfekt“ beherrschen muss.
Es ist ein Weg – Schritt für Schritt, Tag für Tag.
Und jeder Moment, in dem wir das Urteil loslassen, ist ein kleiner Sieg für den Frieden – in uns und in der Welt.
„Je weniger wir verurteilen, desto mehr Raum hat die Liebe, in uns zu wirken.“

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